Keine Tablets mehr an Grundschulen?

Mehr als 40 Wissenschaftler fordern: Digitale Geräte sollen nach skandinavischem Vorbild wieder aus den Klassenzimmern verschwinden Interview mit Prof. Lankau  – Allgemeine Zeitung vom 5.12.2023

Lange wurde darüber diskutiert, dass die Digitalisierung in den Schulen vorangetrieben werden muss. Jetzt wollen Sie das Rad zurückdrehen. Warum?
Um es vorwegzustellen: Nicht die Pädagogen und nicht die Erzieher wollten die Digitalisierung in den Schulen und Kitas vorantreiben, sondern das sind klar wirtschaftliche Interessen der Anbieter. Außerdem wollen wir nicht das Rad zurückdrehen, sondern wir möchten, dass die Frage „Für was setze ich in welchem Alter für welche Schulform welche Medien ein?“ aus rein pädagogischer Perspektive beantwortet wird. Und nicht nach dem Motto: Es gibt neue Techniken – wie jetzt ChatGPT – also müssen wir sie nutzen. Sondern die Frage muss sein: Was möchte ich vermitteln, was sollen Kinder und Jugendliche lernen und welche Medien helfen uns dabei? Im Moment diskutieren wir immer nur über die aktuelle Medientechnik und das aktuelle Gerät, aber das ist eigentlich irrelevant. Wichtiger ist doch die Frage: Was soll gelernt werden – und welche Medien, analog oder digital, helfen dabei?

Sie sind also nicht generell gegen den Einsatz von digitalen Medien in der Schule, sondern wollen nur sicherstellen, dass der Einsatz sinnvoll und mit Maß ist?
Genau. Der Einsatz muss altersangemessen und fachgerecht sein und auch zur Lerngruppe passen. Letztlich geht es darum, dass die Hoheit über das Unterrichten wieder den qualifizierten Lehrkräften überantwortet wird, die dann auch digitale Medien einsetzen können – je nach Fach und Persönlichkeit, Schulform und Lebensalter. Das ist eine Diskussion, die vollkommen aus dem Ruder gelaufen ist. Denn Digitaltechnik hilft mir nicht per se.

Besonders den Einsatz digitaler Medien in der Grundschule sehen Sie kritisch.
Wir hatten gerade eine Sitzung mit Medienpädagogen, wo wir sehr unterschiedliche Positionen hatten. Die Medienpädagogen würden digitale Medien bereits in der Kita einsetzen. Meiner Vorstellung nach brauche ich weder in der Kita noch in der Grundschule Bildschirmmedien. Sondern da muss der Fokus auf die Vermittlung von grundlegenden Kulturtechniken liegen – wie Lesen, Rechnen, Schreiben, Zuhören, aufmerksam sein. Und es muss sehr viel geübt werden. Die Schweden sind jetzt dabei, die Tablets aus den Grundschulen wieder herauszunehmen und stattdessen auf gedruckte Schulbücher zurückzugreifen, weil wir mittlerweile wissen, dass das Lesen mit gedruckten Büchern viel besser gelernt wird.

In Schweden hat man mit der Rückkehr zu den gedruckten Schulbüchern insbesondere darauf reagiert, dass die Schüler bei den jüngsten Lesetests schlechter abgeschnitten haben. Es ist zudem immer wieder zu hören, dass die Rückschritte bei der Lesekompetenz mit dem steigenden Medienkonsum der Grundschüler generell zu tun hat. Teilen Sie die Einschätzung?
Auf alle Fälle. Lesen ist etwas, das man lernen und wirklich üben muss. Man braucht dafür Ruhe und wenn auch andere Vorbilder wie die Eltern oder Geschwister lesen, dann lesen auch die Kinder. Denken Sie an die Harry Potter-Bücher, richtig dicke Bände, die aber auch Zehnjährige schon verschlungen haben. Das heißt: Die Bereitschaft ist also da, wenn die Kultur des Lesens vermittelt wird. Das ist unsere Aufgabe. Und die Schule muss zusätzlich gerade für die Kinder, die nicht aus bildungsnahen Familien kommen, Räume schaffen, etwa dass es eine Bücherecke gibt oder jeden Tag vorgelesen wird, damit das Lesen so selbstverständlich wird, wie es heute der Umgang mit dem Smartphone ist.

Welche weiteren Nachteile sehen Sie denn, wenn Grundschüler digitale Medien nutzen beziehungsweise zu viel nutzen?
Es gibt zum einen körperliche Defizite, die dadurch entstehen. Bewegungsmangel und Übergewicht kommen dazu. Der entscheidende Punkt ist aber, dass die Bildschirmmedien in der Regel sehr Bild lastig sind. Die wichtigste Aufgabe beim Heranführen von Kindern an das Lesen ist ja, dass sie aus den Wimmelbüchern und Kinderbüchern mit Illustrationen den Übergang dahin schaffen, dass man später nur noch Buchstaben hat und beim Lesen eine eigene Vorstellung entwickelt. Dass man Text also in eigene Vorstellungen und Bilder übersetzt. Das fördert die Fantasie, die Vorstellungskraft, die Flexibilität und den Wortschatz. Deshalb sagen wir: Lasst die Kinder lesen! Denn das geht verloren, wenn wir stattdessen zum Beispiel Filme gucken.

Gehören die digitalen Medien aber nicht auch schon zur Lebenswirklichkeit der Grundschüler und Unterstufenschüler dazu?
Ja. Aber das kann man den Schülern ja auch vermitteln, warum man bestimmte Dinge in der Schule eben nicht macht. Das heißt zum Beispiel für die Digitaltechnik: Dass wir Themen wie Missbrauch von Social Media und Stalking in der Schule zwar aufgreifen, aber erklären, warum wir diese Medien in der Grundschule nicht nutzen. Weshalb die Smartphones wie in Frankreich weggeschlossen oder die Laptops wie in Dänemark nur dann aus dem Schrank geholt werden, wenn man sie wirklich für den Unterricht braucht. Wir müssen also vermitteln, dass es Geräte sind, die sehr viel können, aber auch ein Suchtpotential haben und Dinge mit uns anstellen, die wir nicht wollen, weil wir zum Beispiel denken, wir müssten immer draufgucken. Auch mit Blick auf KI-Systeme müssen wir vermitteln, warum es wichtig ist, Texte weiter selbst zu schreiben statt nur „Prompts“ (Anweisungen für den Computer) zu erstellen..

Sind auf der anderen Seite nicht auch vor allem die Eltern in der Pflicht zu schauen, dass die Bildschirmzeit nicht überhandnimmt?
An sich müssten wir Elternpädagogik machen. Dann hätten wir deutlich weniger Probleme in der Schule. Das heißt: Man bräuchte medienpädagogische Konzepte und Schulungen für die Eltern. Damit diese zum Beispiel wissen, warum Kinder die ersten drei Jahre möglichst ohne Bildschirm auskommen sollten und es später wichtig ist, dass man sich mit den Kindern über das im Fernsehen gesehene auch austauscht, damit diese es verarbeiten können. Aber das ist schwer umzusetzen.

Und schließlich: Welche Vorteile sehen Sie darin, wenn Tablets und Laptops in der Grundschule nicht mehr genutzt würden?
Die skandinavischen und baltischen Länder waren alle sehr weit vorne bei der Digitalisierung. Und die Skandinavier haben jetzt gesagt, sie machen die Rolle rückwärts. Ein Beispiel ist eine Schule in Tondern in Dänemark, die waren auch vornedran. Und alle hatten ihre Smartphones und Tablets dabei – bis die Lehrkräfte gesagt haben, es wird zu viel. Wir sehen nichts mehr von den Kindern und die reden nicht mehr miteinander. Und die haben jetzt eingeführt, dass die privaten Geräte von den Schülern in der Schule weggeschlossen werden, die Laptops werden nur herausgeholt, wenn sie gebraucht werden und die Notizen wieder alle auf Papier gemacht. Nach kurzer Umgewöhnungszeit wird nun wieder auf den Pausenhöfen gespielt und im Unterricht miteinander gesprochen – und die Schule hat sehr positive Erfahrungen gemacht. Wenn wir also sehen, wie groß die Defizite in Deutschland jetzt schon bei den großen Bildungsstudien sind und wie viele Jugendliche an psychischen Erkrankungen leiden, wäre unsere Forderung, dass wir nicht die ganzen Fehler der Skandinavier nachmachen, sondern vielmehr die Erkenntnisse der anderen Länder aufgreifen – und die Grundschulen digitalfrei lassen.